Prof. DDr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Edith Stein als Europäerin

Vorwort:

Im 1999 wurde die heilige Edith Stein, zusammen mit der heiligen Birgitta von Schweden und der heiligen Katharina von Siena, zur Mitpatronin Europas erklärt. Der erste Heilige, der zum Patron Europas im Jahr 1964 erhoben wurde, war Benedikt von Nursia, dann schlossen sich ihm Kyrill und Methodius im Jahr 1980 an.

Auf der Webseite jp2.at wollten wir vertiefende Informationen über alle bisherigen Mitpatronen Europas zur Verfügung stellen.

Auf weitere, interessante Artikel zum Thema „Patron Europas“ möchten wir hier verweisen:

Wir bedanken uns besonders herzlich bei Frau Prof. DDr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz für die Unterstützung unseres Vorhabens durch ihre aufbauenden Worte und ihre Ausarbeitung über „hl. Edith Stein als Europäerin“ aus philosophischer Perspektive, die wir im Kontext „Mitpatronen Europas“ auf jp2.at präsentieren dürfen.

Cz. Ogrodnik

 

Prof. DDr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Link zu weiteren Information)

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Edith Stein (1891-1942) als Europäerin

Hl. Edit Stein, Mitpatronin Europas

Leben in Spannung

Vieles, was seit dem 19. Jahrhundert gespalten war, tritt in Edith Stein, neu zusammengefügt, in den „katholischen Frühling“ der 20er Jahre ein: Wissen­schaft und Religiosität, Intellekt und Hingabe, anspruchsvolles Den­ken und Demut, Juden­tum und Christentum. Unter den wenigen Photographien fallen zwei Ge­sichter auf, die doch eines sind: die stolze, selbstbewußte, selbst­kritische Doktorin der Philosophie und die „Braut des Lammes” mit dem rätselhaft schmerzlichen und tief verinner­lichten Gesichtsausdruck auf dem Bild ihrer Ein­kleidung in den Kölner Karmel im April 1934. Dazwischen liegt ein Abstand, den Edith Stein mit Denken, mit Feuer, mit Leben, mit Glück, aber auch mit holocaustum gefüllt hat – einem Wort, das sie selbst bereits im Blick auf Husserl im Sinne von „Ganzhingabe” verwendet.

Unabsichtlich wird sie aber durch ihren Geburtsort Breslau, heute Wroclaw, auch zur Brückenbauerin zwischen Deutschen und Polen, und in ihrer Lebenshingabe (die noch beleuchtet wird) ebenso zwischen Deutschen und Juden. Sie beherrscht sechs Sprachen: deutsch, griechisch, lateinisch, polnisch, englisch, französisch,  und wird in den beiden letzten Jahren ihres Lebens dazu noch holländisch lernen.

Entscheidendes wird bereits in der „Dichte der Kindheit“ (Rilke) vorbereitet. Schon der Mutter war die Geburt des elften und letzten Kindes am hohen Versöhnungsfest, damals am 12. Oktober 1891, auszeichnend. Breslau, Geburtsort Edith Steins, besaß eine starke jüdische Gemeinde. Beide Eltern entstammten kinderreichen Familien aus dem schlesischen Kleinbürgertum, die allerdings um die Jahrhundertwende durch Studium und wachsenden Wohlstand mittelständisch wurden.

Das Mädchen wächst vaterlos auf: Siegfried Stein (1843-1893), Holz- und Kohlenhändler in Breslau, stirbt plötzlich auf einer Geschäftsreise. So übernimmt die Witwe Auguste, geborene Courant (1849-1936), das Geschäft. Das Bild dieser starken Frau, die ungelernt, mit erstaunlichem Erfolg und größtem Fleiß in die Arbeit einsprang, hat die Tochter später beim Entwurf der weiblichen Arbeitswelt und vor allem bei der Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geleitet. Auguste Stein besaß praktische Lebens­klugheit und eine verhaltene, aber selbstverständliche Frömmigkeit; dennoch wuchsen die Kinder bereits in ein liberal-preußi­sches Kulturbürgertum hinein.[1] Die unaufhaltsame Assimilation dieser Generation warf die religiöse Tradition unbefangen weithin ab – sie überlebte eher in Form von Brauchtum, wie der Sabbatfeier und dem jüdischen Hochzeitsritual der Lieblingsschwester Erna.

Die Mutter ist die zutiefst prägende Gestalt und von starker charakterlicher Überein­stimmung mit der Tochter: Ethische Entschiedenheit, Bedürfnislosigkeit und Selbstdisziplin bleiben grundlegendes Erbe. Von der frühen Auffassungsgabe der „klugen Edith“, die den Kindergarten verweigert und dringlich in die Schule strebt, über ihre erstklassigen schulischen Leistungen bis zu Gymnasium und Abitur 1911, wo sie als Prima den Denkspruch erhält: „Schlag an den Stein, und Weisheit springt heraus“, und bis zu ihrer glänzenden Studienzeit und Promotion 1916 geht ein geradliniger, kaum gehemmter Weg. Hervorstechend ist eine rasch und gründlich aufnehmende Intelligenz, allerdings steht sie neben einer zeitweise über­mäßigen Verschlossenheit. In der Autobiographie Aus dem Leben einer jüdischen Familie wird die Gefährdung dieser jugendlichen Phase – bis zur Lebensmüdigkeit – mit Freimut angesprochen. Schon die Gymna­si­astin wendet sich den Idealen der Frauenbewegung zu, an der sie den männlich-kämpferischen Zug schätzt. Das leichte Abstreifen des Betens mit 14 Jahren ist bezeichnend, weil sich daran das Gesetz ihrer ganzen Generation zeigt: statt einer unverstandenen Tradition anzuhängen, lieber aufrichtig in einem keineswegs unangenehmen Vacuum zu stehen; später wirft sich Edith Stein die „Sünde des radikalen Unglaubens“ vor.[2]

Das – erstmals für Frauen mögliche – Studium führt Stein zu inneren Durchbrüchen. Zunächst freilich bleibt das in Breslau 1911 begonnene Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Psychologie der kritischen Studentin zu flach – vor allem die bei William Stern gepflegte „Psychologie des Denkens“. Erst Edmund Husserls Logische Untersuchungen (1900/01) führen zum ersehnten intellektuellen Anreiz und zum leichtfüßigen Wechsel nach Göttingen 1913. Sofort in Husserls Seminar aufgenommen kommen der Wunsch nach methodischer Klärung und das Drängen nach selbständiger Arbeit zur Entfaltung. Stein besaß von Anfang an das Zielgerichtete und Willens­beton­te einer großen rezeptiven Kraft. So führte sie gleich das Sitzungsprotokoll der Göttinger Philosophischen Gesell­schaft, in der auch Max Scheler, damals der aufgehende Stern eines neuen katholischen Denkens, vortrug. Schelers philosophische Schätzung des Religiösen klang für die Agnostikerin erstaunlich, aber nicht unlogisch: „Das war meine erste Berührung mit dieser mir bis dahin völlig unbekannten Welt. (…) sie erschloß mir einen Bereich von ‘Phänomenen’, an denen ich nun nicht mehr blind vorbeigehen konnte. (…) Die Schranken der rationalistischen Vorurteile, in denen ich aufgewachsen war, ohne es zu wissen, fielen, und die Welt des Glaubens stand plötzlich vor mir.“[3]

Der Erste Weltkrieg führte zu tiefer, kaum zu bewältigender Erschütterung, zumal der triumphale Aufbruch sich immer tiefer in die Niederlage verstrickte. Die überzeugte Patriotin – Schlesierin, Preußin, Deutsche in konzentrischer Reihung – unterbricht 1915 Studium und Doktorarbeit zugunsten eines Lazarett-Ein­satzes in Mährisch-Weiskirchen. Zurückgekehrt beendet sie nicht ohne Krisen nervlicher und intellektueller Erschöpfung ihre Dissertation über Einfühlung, die Husserl, mittlerweile nach Freiburg berufen, im August 1916 summa cum laude benotet. Stein findet sich jedoch bei allem steil aufstrebenden Weg in einer unklaren Lage: Husserl erwägt grundsätzlich keine Habilitation von Frauen; ein nicht-philosophischer „Brotberuf“ ist ihr jedoch undenkbar. Immerhin stellt der „Meister“ die ebenso fähige wie fleißige Doktorin als (unterbezahlte) Privatassistentin an. Ihre mühselige Aufgabe besteht darin, stenographierte Entwürfe zu transkribieren und ihre Weiterbearbeitung anzuregen oder selbst durchzuführen. Allerdings wird Stein dieses zehrende Tun wegen mangelnder Zuarbeit Husserls schon im Februar 1918 entmutigt aufkündigen. Denn jene ungemein angespannten Jahre sollten auch eigenen Entwürfen dienen, die zunächst politischen und sozialphilosophischen Charakter haben. 

Wendung des Lebens: nach innen und unten

 Einbrüche besonderen Leidens von 1917 bis 1921 drängen die Agnostikerin unaufhaltsam vor die Frage nach Sinn – 20 Jahre später wird sie ihrem Hauptwerk den herausfordernden Untertitel geben Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins. Damals handelte es sich um verschiedene Verbauungen des anfänglich so selbstsicheren Weges: Zum einen war die unerhört rasche Karriere an der Universität durch die Kündigung der Mitarbeit bei Husserl beendet. Hinzu kommen zwei zerbrochene Beziehun­gen. Die erste galt in scheuer und verhaltener Form – mit dem Höhepunkt 1917 – dem pol­nischen Kommilitonen Roman Ingarden. 1920/21 wiederholt sich das Grundmuster, Liebe ohne Gegenliebe, in bezug auf Hans Lipps in „gespenstischer Weise“. Stein reflektiert später ohne genaue Angaben ein „Erlebnis, das meine Kräfte überstieg, meine geistige Lebenskraft völlig aufge­zehrt und mich aller Aktivität beraubt hat“[4]. Weitere Schläge kommen von außen: Der geliebte Lehrer Adolf Reinach, Husserls Assistent, fällt im November 1917, Husserl selbst verlor den jüngeren Sohn Wolfgang; und was undenkbar schien, geschieht: Das Deutsche Reich zerbricht in Trümmer und schlittert in Hungerjahre und Inflation; auch das kleine „Vermögen“ von Mutter Stein löst sich auf. Die Hochbegabte ist arbeitslos, zukunftslos, einkommenslos…

Mehre­re Jahre liest sich Edith Stein in christliche Literatur ein, benutzt offenbar schon – lateinkundig – ein Brevier; im Juni 1921 mündet die quälende Suche in den Entschluß zur Taufe. Er fällt in Bergzabern im Hause von Hedwig Conrad-Martius anhand Teresas von Ávila Vida – einem Geschenk aus dem Hause Reinach. Der „Blitz“ dieser einen Nacht muß jedoch vor dem Hintergrund einer mehrjährigen „Wüste“ und eines großen Leides gesehen werden. „(…) etwa so wie einem, der in Gefahr war zu ertrinken, und dem lange nachher im hellen, warmen Zimmer, wo er ganz geborgen ist und rings umgeben von Liebe und Fürsorge und hilfreichen Händen, auf einmal das Bild des dunklen, kalten Wellengrabes vor der Seele steht. Was soll man dann anderes fühlen als Schauder und dazu eine grenzenlose Dankbarkeit gegen den starken Arm, der einen wunderbar ergriffen und ans sichere Land getragen hat?“ [5]

Die Wucht der neuen Anziehung ist erheblich: Stein läßt sich am 1. Januar 1922 in Bergzabern taufen und am 2. Februar 1922 in Speyer firmen – wo die christliche Liturgie jüdische Rituale mitfeiert: die „Beschneidung des Herrn“ und die „Reinigung Mariens im Tempel“ nach mosaischem Gesetz. Doch trennt sich Stein damit von ihrer Kindheits-Kultur, wie ihr bedrückend klar wird am tiefen Schmerz und bleibenden Unverständnis ihrer Mutter und der Familie.

Das Leben unter dem „neuen Gesetz“ verläuft in zunächst unauffälligen Bahnen: 1923-1931 arbeitet Stein als Lehrerin für Deutsch und Geschichte am Lyzeum St. Magdalena der Dominikanerinnen in Speyer. Erich Przywara SJ, ein Mentor katholischer Intelligenz dieser Jahre, rät ihr zu Übersetzungen von John Henry Newman und Thomas von Aquin, um denkerisch, nicht nur gläubig in christliche Philo­sophie einzudringen.

Neben der (Über-)Last der Schularbeit häufen sich die Einladungen zu Vorträgen, vornehmlich zur Frauen­frage.[6] Geistliche Heimat wird ihr ab 1928 Kloster Beuron – „der Vorhof des Himmels“ – unter Abt Raphael Walzer. 1932 beruft das Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik die bekannte Vortragende als Dozentin nach Münster – auf die erste wirklich angemessene Stelle. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ im April 1933 jedoch „untragbar“ geworden, kündigt sie selbst, um – wiederum nach herzzerreißendem Abschied von zuhause – in den Karmel einzutreten. Bei der Einkleidung in Köln im April 1934 erhält sie wunschgemäß den Namen Teresia Benedicta a Cruce – eine klare Hommage an die beiden Wegbegleiter Teresa von Ávila und Benedikt von Nursia.

1937 zeichnet sie eine „ganz einfältige“ Skizze des neuen Lebens: „Wir glauben, daß es Gott gefällt, sich eine kleine Schar von Menschen auszuwählen, die besonders nahen Anteil an seinem eigenen Leben haben sollen, und glauben, zu diesen Glücklichen zu gehören. (…) Unsere Aufgabe ist es, zu lieben und zu dienen. (…) An sich gilt es gleich bei uns, ob man Kartoffeln schält, Fenster putzt oder Bücher schreibt. Im allgemeinen verwendet man aber die Leute zu dem, wozu sie am ehesten taugen, und darum habe ich sehr viel seltener Kartoffeln zu schälen als zu schreiben.“[7]

Tatsächlich wünscht der Orden, ihre Begabung nicht brach liegen zu lassen. Ein umfangreiches Werk, ursprünglich als Habilitationsschrift von 1931 noch Potenz und Akt beti­telt, wird mit Zunahme der Problematik Endliches und ewiges Sein genannt (1936/37). 1941/42 folgen Wege der Gotteserkenntnis und die Kreuzeswis­senschaft: Inspiriert von dem spanischen Mystiker Johannes vom Kreuz (1542-1591) zeichnet Stein die paradoxe Beziehung von Leben und Tod, Kreuz und Auferstehung nach, was im nachhinein durchsichtig wird auf ihre eigene Lebensentscheidung.

Widmen wir uns zunächst der prägenden Erfahrung der jungen Agnostikerin in ihrer Studienzeit in Göttingen und Freiburg: dem europäischen “Brudermord“ 1914 – 1918.

Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs

In welchem lebensmäßigen und gesellschaftlichen Zusammenhang kommt es zu den sozialphilosophischen Arbeiten Steins – die sie ja später nicht mehr aufgreift? Ihr doppelter Hintergrund erhellt sich durch die Abfassungszeit 1918/19: Sie entstammen einerseits dem katastrophalen Kriegsende, jenem Bruch der europäischen Geschichte mit dem bürgerlichen 19. Jahrhundert, d. h. mit der bisherigen politischen Verfassung Zentral- und Osteuropas, die zur mühsamen Umstrukturierung des österreichischen und deutschen Kaiserreiches und zur russischen Revolution 1917 führte. Eine verlorene und gebrochene Generation suchte nach Neuordnung auf den Ruinen Europas; diese Neuordnung bot sich für Mitteleuropa in einer nicht eingeübten Demokratie an und mußte daher von Grund auf, vom „Wesen“ her aufgearbeitet werden.

Wie der Briefwechsel mit dem polnischen Kommilitonen Roman Ingarden ausweist, empfindet Edith Stein auch persönlich den Untergang des Deutschen Reiches als Erdbeben. Die Volksabstimmung 1921 in Oberschlesien über die Zugehörigkeit einiger Gebiete zu Polen oder zu Deutschland[8] forderte die gesamte Familie Stein zum werbenden Einsatz für Deutschland heraus. Stein trat kurzfristig der (links-)liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei, um beim politischen Neuaufbau tatkräftig mitzuwirken und insbesondere für das Frauenwahlrecht zu arbeiten.[9]

Andererseits steht Stein mit der Analyse von Gemeinschaft, Gesellschaft, Staat einer Theoriebildung der frühen deutschen Soziologie nahe, die schon um die Jahrhundertwende eingesetzt hatte. Ihr eigenes Interesse war eindeutig phänomenologisch, doch führte ihre Dissertation über Einfühlung notwendig auf die Frage einer möglichen Konstitution des Ich durch ein Wir oder ein Du.[10] Thematisch bewegte sie sich damit in der Nähe soziologischer und politologischer Fragen. Diese Hintergrundmomente seien näher ausgeleuchtet.

Der Erste Weltkrieg war jene entsetzliche Zäsur der europäischen Geschichte, die fast unmittelbar auf den Zweiten Weltkrieg zuführte: Er erwies sich als „zivilisatorische ‚Falltür’ von 1914-1918“[11]. Thomas Mann schrieb in einer späten Selbstbetrachtung: „Der Donnerschlag des Kriegsausbruchs von 1914 war ein sprengender, weckender, weltverändernder Schlag – er endete eine Epoche, die bürgerlich-ästhetische, in der wir herangewachsen waren, und öffnete uns die Augen dafür, daß wir fortan nicht würden leben und dichten können wie bisher.“[12]  Max Scheler, der 1915 ursprünglich dem Krieg als einer belebenden Herausforderung aller Kräfte zustimmend gegenübergestanden hatte (Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg)[13] ebenso wie Hugo von Hofmannsthal und Martin Buber, klagte über eine „bis in ihre letzten Grundlagen erschütterte geistig-sittliche Kultur Europas – die im Winde flattert gleich einer zerschlissenen Fahne über Leichenfeldern“.[14] Gleichermaßen drastisch heißt es bei Theodor Haecker 1917: „Europa ist gekleidet in blutbefleckte Lumpen. […] Der Umsturz der Gewalten und Sitten, von dem die nächsten Generationen Europas leben und in Krämpfen des Hasses und des Zornes und des Neides beben werden, ist nur zu verhindern durch den Umsturz der Gesinnung.“[15]

Der Jesuit Erich Przywara, wichtiger Mentor Edith Steins im Blick auf John Henry Newman und Thomas von Aquin, analysierte jahrelang das Ringen der Gegenwart[16] nach dem Zusammenbruch alter Ordnungen. Der Arzt und expressionistische Berliner Dichter Gottfried Benn kam dabei zu fast hoffnungslosen Beschreibungen: „Was übrigblieb, waren Beziehungen und Funktionen; irre, wurzellose Utopien; humanitäre, soziale und pazifistische Makulaturen; […] Sinn und Ziel waren imaginär, gestaltlos, ideologisch […]. Auflösung der Natur, Auflösung der Geschichte. Die alten Realitäten Raum und Zeit: Funktionen von Formeln; Gesundheit und Krankheit: Funktionen von Bewußtsein; selbst die konkretesten Mächte wie Staat und Gesellschaft substantiell gar nicht mehr zu fassen […].“[17] Symptomatisch für die Epoche ist Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes[18] – die zwei weißen Bände standen als der Selbstausdruck einer ganzen Generation in jeder bürgerlichen Bibliothek. Kulturkritisch hatte Spengler evident das Lebensgefühl nicht nur der Deutschen getroffen.[19] Zeitgleich erschienen das programmatische expressionistische Gedicht Weltende von J. van Hoddis und das Drama Die letzten Tage der Menschheit des Wieners Karl Kraus. Das Methodenparadigma der Kulturmorphologie, unter dem Spengler schrieb, entsprach gewolltermaßen den biologischen Gesetzen des Werdens und Vergehens und war insofern ebenso en vogue wie fatalistisch, da es anstelle persönlicher Verantwortung eine Art evolutionären „Schicksals“ setzte. Die Lebensphilosophie dieses Typus wurde zurecht „biozentrische Metaphysik“ genannt[20]; in dieser quasibiologisch unterlegten Philosophie gediehen auch aufkommende Wendungen wie „Blut und Boden“, Volk und Rasse. Es ist aufschlußreich, Steins Abhandlungen Individuum und Gemeinschaft sowie Eine Untersuchung über den Staat[21] im konfrontierenden Blick gegenüber dieser biologistischen Tendenz zu lesen.

Nur für wenige war das „Ende Europas“ von der ahnungsvollen Vision einer möglichen neuen Einheit überwölbt. Romain Rolland (1866-1944), der Anwalt unkündbarer kultureller Beziehungen Frankreichs und Deutschlands, formulierte: „Die Zukunft muß kennen, was ich als einer von wenigen gesehen habe: den herzergreifenden Streit der Seelen des Abendlands, ihre Leiden, ihre Zweifel, ihre Hoffnungen, die ganze Tragödie des europäischen Geistes, den der Krieg zupflügte wie einen lebend Begrabenen, diese treue, verfolgte, gleichmütig standhafte kleine Schar, die weiterhin an die Einheit des gekreuzigten Europas glaubte und durch ihren Glauben diese Einheit wiederauferstehen ließ.“

Vor der auch nur andeutenden Verwirklichung einer derartigen Vision stand aber die reale Bitterkeit des Endes in Deutschland, wie sie der gebürtige Italiener Romano Guardini 1923 empfand: „Bei dem Zusammenbruch hatten wir das Gefühl eines Ertrinkenden, dem es um Ehre und Sein geht. Jedem, der im besetzten Gebiet wohnt, war das Hellste dunkel, wenn er die fremden Uniformen sah.“[22] Der Dichter und Übersetzer Rudolf Alexander Schröder schrieb im April 1919: „Auch mir ist durchaus zumut wie einem zum Tode Verurteilten […] Es scheint nun doch so, daß sich der Fall Karthago – diesmal allerdings an einem viel ausgebreiteteren Volk – wiederholen soll; denn alles ist danach eingerichtet, um unser Wiederaufkommen zu verhindern, und in dieser Hinsicht stehen wir selbst hinter Rußland zurück.“[23]

Auch Edith Stein hat Teil an der Gesamtstimmung. Ihr depressiver Grundzug nach den Weltkriegstoden von Husserls hochbegabtem Göttinger Assistenten Adolf Reinach (+ 16. November 1917) und anderen Kommilitonen ist nicht zu überhören; sie fühlt sich als Überlebende gleichsam mitgestorben und nur zufällig entkommen. 1917 bis 1919 sind wohl die Jahre ihrer tiefsten menschlichen Krise, die sich erst mit der Konversion 1922 aufzulösen beginnt.

Die Suche nach tragender Gemeinschaft: 

Unterschiedliche geisteswissenschaftliche Ansätze

Max Scheler formulierte in dieser gesellschaftlichen Notlage die mögliche Ursache der Krise und gab ihren Ausweg vor: „Wir fühlen nämlich, daß wir am Beginne eines historischen Weltalters stehen, das gegenüber dem vorwiegend kritischen und individualistischen, alle irdischen Kräfte des Menschen und der Natur bis zur äußersten Leistung entbindenden Zeitalter der sog. Neuzeit als ein positives, gläubiges Zeitalter bezeichnet werden darf; gleichzeitig aber als ein auf Gemeinschaft gerichtetes, die zuvor nur entbundenen Kräfte geistig meisterndes, darum auch ‚Organisatorisches’ Zeitalter. Ein Zeitalter scheint sich uns zu nahen, in dem vom Geiste des Menschen diejenigen Kräfte wieder kühn und gläubig in die Hand genommen werden, die sich von den zentralen Mächten des menschlichen Willens und Geistes freigemacht hatten und die das menschliche Leben gleichsam schicksalsmäßig und automatisch bestimmten […], damit in ihnen der menschliche Geist ein neues, dauerndes  Wohnhaus der menschlichen Gesellschaft aufrichte.“[24]

Eine so verstandene Suche nach „Gemeinschaft“ war offenbar grundsätzlich religiös orientiert, welcher Grundzug den sich bildenden „Bewegungen“ der 20er Jahre entsprach. Charakteristisch ist freilich die schillernde Unsicherheit der Zeit, wie Hermann Hesse 1932 schrieb: „[…] unsre merkwürdige Zeit: die trübe, verzweifelte und doch so fruchtbare Zeit nach dem großen Kriege. […] Es war ja damals kurz nach dem Weltkriege, und namentlich für das Denken der besiegten Völker, ein außerordentlicher Zustand von Unwirklichkeit, von Bereitschaft für das Überwirkliche gegeben, wenn auch nur an ganz wenigen Punkten tatsächlich Grenzen durchbrochen und Vorstöße in das Reich einer kommenden Psychokratie getan wurden. […] Zu jener Zeit […], nämlich unmittelbar nach dem Ende des großen Krieges, war unser Land voll von Heilanden, Propheten und Jüngerschaften, von Ahnungen des Weltendes oder Hoffnungen auf den Anbruch eines Dritten Reiches. Erschüttert vom Kriege, verzweifelt durch Not und Hunger, tief enttäuscht durch die anscheinende Nutzlosigkeit all der geleisteten Opfer an Blut und Gut, war unser Volk damals manchen Hirngespinsten, aber auch manchen echten Erhebungen der Seele zugänglich, es gab bacchantische Tanzgemeinden und wiedertäuferische Kampfgruppen; es gab dies und jenes, was nach dem Jenseits und nach dem Wunder hinzuweisen schien; auch eine Hinneigung zu indischen, altpersischen und anderen östlichen Geheimnissen und Kulten war damals weitverbreitet […]“[25]

Vor allem während des „katholischen Frühlings“ (ver sacrum catholicum) kam es zu vielfältigen Erneuerungsbewegungen, die sich entweder in gänzlich neuen Aufbrüchen oder in der Renaissance alter Ordnungen, etwa der klassischen Orden wie des Benediktinerordens, manifestierten.[26] Die überraschendste Neuentdeckung dieser Jahre war in der Tat jene der (katholischen) Kirche als Gemeinschaft des corpus mysticum.[27] Ihr unzerstörbarer Charakter wurde der Überstaatlichkeit und Übervolklichkeit zugeschrieben – im Unterschied zu den orthodoxen Nationalkirchen.[28]

Zeitgleich befaßte sich eine Reihe von Phänomenologen oder phänomenologienahen Denkern mit Fragen der Sozialphilosophie, so Gerda Walther (1923), Romano Guardini in sechs Aufsätzen zwischen 1928 und 1932[29], Dietrich von Hildebrand in seiner Metaphysik der Gemeinschaft (1930) und schließlich der junge Josef Pieper in Die Neuordnung der menschlichen Gesellschaft (1932) im Blick auf die zeitgenössische Sozialenzyklika Quadragesimo anno von Papst Pius XI. (1931).[30] Offenbar unterscheiden sich diese Ansätze von den soziologischen durch die eher unpolitische oder vorpolitische Art der Betrachtung, in der Suche nach einer transzendenten oder metaphysischen Begründung von Gemeinschaft.

Im wilhelminischen Deutschland wie in der Weimarer Republik liefen diese vielfach einsetzenden theoretischen Klärungen und lebenspraktischen Versuche parallel zur Ausbildung der frühen Soziologie; erinnert sei an die Namen Alfred und Max Weber, Werner Sombart, Georg Simmel, Ferdinand Tönnies, C. Grünberg, Max Horkheimer, Karl Mannheim, Eugen Rosenstock-Huessy und andere.[31]

Abwertend – jedenfalls was die „Metaphysiker“ und Phänomenologen der „Gemeinschaft“ betraf – markierte der Soziologe Leopold von Wiese 1932 die Grenzen zur „wissenschaftlichen“ oder  deskriptiven Soziologie: „In weiten Kreisen der Gebildeten und der Ungeschulten bestand ein vorher im gleichen Grade unbekannter Wunsch nach Bewältigung des Rätsels ‚menschliche Gesellschaft’; aber dieser Drang war bei vielen kein reines Verlangen nach verstandesmäßiger Erkenntnis, sondern vielmehr eine Sehnsucht nach Mythus […]. Es war mehr ein Streben nach einer neuen Metaphysik und nach neuen Glaubens- oder Traumspielen als nach klarem Wissen um den Gegenstand.“[32]

Tatsächlich gibt es ein unvermutetes Beispiel für ein Schwärmertum solcher Art, nämlich Ernst Bloch. Am 21. Dezember 1918 schrieb er „Zur Ankunft Wilsons in Europa“ einen offenen Brief an den amerikanischen Präsidenten, der mit dem Kriegseintritt der USA den Weltkrieg entschieden hatte: „Sie waren immer bei uns. Das Gute ist schlicht und einfach. Das Licht zog mit Ihren nunmehr abgelegten Waffen; Liebe, Überzeugung, Reinheit, die Geburt der ethischen Demokratie. Sie leben uns den guten Menschen vor. Scham ergreift vor Ihnen den Rohen und Harten. Mit Ihnen kommt wieder der Christusimpuls in die Welt, und Sie sind der erste Machthaber des christlichen Geistes geworden.“[33] Die hymnische Aussage ist um so merkwürdiger, als Bloch sich wenig später mit derselben schwärmerischen Pose in den Messianismus des Marxismus stürzte: „In einer Gesellschaft kann es nicht mehr aufgehen und verstanden werden, worin, wie Eduard Spranger referierte, nur noch zwei Philosophien vorhanden sind: eine der Verzweiflung, die alles aufgibt, und eine des Spinnwebs, die aus längst hinter uns liegenden, mittelalterlich-scholastischen Auskünften der Weisheit klerikalen Schluß machen will. Nur der schöpferische Marxismus ist unsere Zeit, in Gedanken gefaßt, als einer schaffenden, erbenden, verwirklichenden zugleich.“[34]

Bloch hat in dieser Abkanzelung nicht allein seiner eigenen These von der „ethischen Demokratie“ im Blick auf die USA widersprochen. Er übersieht in der Fixierung auf eine angeblich klerikale Gesellschaftstheorie auch potente phänomenologische Sozialanalysen vom Schlage Edith Steins. 

„Die Begier zu sehen, was aus Europa wird“

 Im Briefwechsel mit dem polnischen Patrioten Roman Ingarden, ihrer ersten unerwiderten Liebe, lernt man die deutsche Patriotin Edith Stein kennen, eine politisch denkende, von Weltkrieg und Deutschlands Zusammenbruch verstörte junge Frau. Anfänglich überwog noch der hoffnungsvolle, auch urteilsfähige Ausblick nach vorn: „Nach dem Kriege wird das Wahlrecht und damit die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses und wohl auch des Ministeriums eine andere. Dann wird mein liebes Preußen deutscher und damit zugleich auch mitteleuropäischer.“[35] Kurz darauf ein bezeichnendes Bekenntnis, das vor  dem Hintergrund ihres Lebensendes bewegend wirkt: „Alles, was ich bin, gehört dem Staat; wenn ich den Krieg überlebe, dann will ich es als neu geschenkt wieder aufnehmen.“[36] In der Mitte desselben Jahres erscheint ein beinahe lebensmüder Ton – eine Reihe Breslauer Studienfreunde ist tot: „(…) viel ist ja nicht mehr von dem übrig, was man damals war, der Jugendübermut ist zum Teufel (…), als ob man einer klängst ausgestorbenen Generation angehörte. (…) Im allgemeinen sind es eigentlich nur 2 Sachen, die meine Spannkraft aufrecht erhalten: die Begier zu sehen, was aus Europa wird, und die Hoffnung, etwas für die Philosophie zu leisten.“[37]

Bemerkenswert aktiv denkt die Patriotin über Europa nach. Bei Gelegenheit bringt sie eine „alte Idee“ wieder zur Sprache, man soll in den verschiedenen Ländern Institute für Kulturaustausch einrichten „zur Anbahnung eines wechselseitigen Verständnisses“[38]. Nach dem Kriegsende  tritt sie unmittelbar in Breslau in die neugegründete Deutsche Demokratische Partei (DDP) ein, vor allem bewegt von den Zielen, die Frauen zur Wahlurne zu bringen und für die oberschlesische Abstimmung für Deutschland zu kämpfen  – wochenlange harte Arbeit, Abfassung von Flugblättern, Parteiversammlungen auch in Berlin folgen.[39] Diese Karriere  endet zwar: „Die Politik habe ich satt bis zum Ekel. Es fehlt mir das übliche Handwerkszeug dazu völlig: ein robustes Gewissen und ein dickes Fell. Immerhin werde ich bis zu den Wahlen aushalten müssen, weil es zuviel notwendige Arbeit gibt.“[40] Aber Edith Steins geschichtliches, frauenrechtliches, soziales und politisches Denken wird bleiben. 1918/19 konzipiert sie eine Abhandlung über Individuum und Gemeinschaft, die unmittelbar aus der politischen Arbeit hervorgeht; 1929/20 folgt Eine Untersuchung über den Staat. Und die Briefe an Roman Ingarden geben manchen kleinen Spiegel der Weimarer Republik wie später – sehr verhalten – des Dritten Reiches.

Individuum und Gemeinschaft

Wohltuend nüchtern heben sich Sprache und Ductus Edith Steins in ihren Überlegungen zur Sozialphilosophie von solchen schwankenden und exaltierten Mythisierungen ab, wie sie etwa bei Bloch (und selbst beim jungen Buber!) zu finden waren. Es bleibt festzuhalten, daß sie ihre Analysen weder im gängigen Klima der nietzscheanisch unterlegten „Lebensphilosophie“ noch des „bestimmenden Blutes“ niederschrieb, sondern sich solcherart Argumentation mit einer winzigen Ausnahme enthielt. In einem Entwurf vom 17., 19. und 24.9.1929 skizzierte sie zu den Stichworten „Persönlichkeit und Gemeinschaft“ einen Unterschied von Gemeinschaft und Gesellschaft: „Gemeinschaft im weitesten Sinn als ursprünglicher Verständnis- und Erlebniszusammenhang auf Grund von Artgemeinsamkeit. Im engeren Sinn abgegrenzt gegen Gesellschaft (der Zweckverband mit bewußtem Stiften, Auflösen, Ein- und Austreten, Objekt-Einstellung) als die naturhaft erwachsende durch Blut- oder Gesinnungs- oder Lebens-Gemeinsamkeit erwachsende; Wir-Erleben.“[41]

Drei Jahre später, im Münsteraner Wintersemester 1932/33 nach etlichen eintrübenden Erfahrungen im „Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik“, wird Stein das Thema „Rasse“ im Zusammenhang ihrer Anthropologie-Vorlesung überhaupt nicht mehr anschneiden, obwohl es damals geradezu in der Luft lag. „Auf den noch so wenig geklärten und so viel umstrittenen Begriff der Rasse möchte ich hier nicht eingehen […] da der Begriff des Volkes doch etwas geklärter ist als der der Rasse […], so ziehe ich es vor, eine Analyse des Volkes zu versuchen, um dadurch klarer zu machen, was es heißt, Glied einer Gemeinschaft zu sein und einen Gemeinschaftstypus zu verkörpern. […] Unter ‚Volk’ verstehen wir zunächst einmal eine Gemeinschaft im weitesten Sinne des Wortes, d. h. ein soziales Gebilde, dem individuelle Personen angehören.“[42]

Individuum, Gemeinschaft, Staat

 Stein geht von transzendentalphänomenologischen Vorüberlegungen zur Existenz von Außenwelt und Leiblichkeit zu einer realphänomenologischen Analyse in den anschließenden Arbeiten über. Es ist ein Ebenenwechsel in Sache und Methode.

In Individuum und Gemeinschaft[43] entwickelt Stein den Unterschied von Gemeinschaft und Gesellschaft im Sinne von Ferdinand Tönnies[44]: Gemeinschaft trägt ihren Sinn in sich, Gesellschaft ist ein Zweckverband. Gemeinschaft konstituiert sich in doppelter Weise: entweder durch einen gemeinschaftlichen Erlebnisstrom oder durch ein individuelles Gemeinschaftserlebnis. Beides setzt im Individuum eine geistige Selbsttranszendenz voraus – wie könnte sonst aus den monadischen Ichs ein Neues, Gemeinsames entstehen oder wahrgenommen werden. „[…] damit eine Lebenskraft eine Mehrheit von Individuen speisen könne, ist eine spontane Hingabe der Individuen aneinander nötig: ein Sich-öffnen oder Geöffnet-sein für einander, das über die Empfänglichkeit für ‚Eindrücke’ […] hinausgeht und geistiger Natur ist. […] Echte überindividuelle psychische Realitäten aber können nur aus geistigen Individuen erwachsen, nur kraft geistiger Funktionen.“[45]

Ferner wird Gemeinschaft selbst zum „Analogon“ einer individuellen Persönlichkeit, zu einer „Gesamtperson“ (gemäß dem Ausdruck von Scheler).[46] Insbesondere die Übertragung von Lebenskraft der Gesamtheit auf das Individuum zeigt Ähnlichkeiten mit zwischenmenschlichem Kraftaustausch.

Gerade die sozialen Akte wie Liebe, Dankbarkeit, Vertrauen, Mißtrauen usw. erweisen die Möglichkeit solcher Kraftübertragung; so führt auch die Gemeinschaft Lebenskraft zu oder vermindert sie. Dennoch wird „Einfühlung“ in die Gemeinschaft niemals zur schelerschen „Einsfühlung“.[47] Phänomenologisch bleibt es beim Primat des Ich, von dem aus Anderheit und damit die Gemeinschaft aufgebaut werden; Stein hält am ethischen Individualismus fest.

Gleichwohl sind Ich und Gemeinschaft real gleichursprünglich anzusetzen; denn das Individuum sei „ebenso ursprünglich soziales wie individuelles Wesen […]; dadurch wird aber nicht aufgehoben, daß die sozialen Gebilde in Individuen fundiert sind“[48].

Der gedankliche Ansatz beim Ich, auch in transzendentalphänomenologischer Reinheit, führt also nach Stein zwingend zu einer Transzendierung zum Du oder Wir. Die darin ausgetauschten Lebensströme bilden eine Gemeinschaftsseele. Sie „modifiziert zwar nicht die individuelle Seele, aber das Hineingenommensein des Einzelsubjekts in einen Gemeinschaftsraum […] führt zu einer Erweiterung des Erfahrungshorizontes: Es werden dem Subjekt Erlebnisse, Gedanken und Wertungen zugänglich, deren es als isoliertes Ich nicht fähig wäre.“[49]

Dennoch ist entscheidend, gerade im Blick auf den sich anschließenden Totalitarismus in Vergötzung von Gemeinschaft, Rasse, Volk, daß Edith Stein alle Gemeinschaft deutlich auf dem Einzelnen, der Person und ihrer Verantwortlichkeit, aufgebaut sieht. Diese Wurzel ihrer Überlegungen entspricht einer zutiefst demokratischen Theorie, die freilich den urteilsfähigen Einzelnen voraussetzt und ohne ihn nur eine von verdeckten Absichten gelenkte Demokratie wird.

In der Untersuchung über den Staat[50] entwickelt Stein zudem eine Theorie über den Zusammenhang von Recht und Staat, auf der Grundlage von Adolf Reinachs Rechtsphilosophie, des von ihr verehrten Göttinger Husserl-Assistenten. Es ist bezeichnend, daß der Staat dabei als übergreifende Größe über das Volk und die Gemeinschaft hinaus erfaßt und einzig an die Rechtlichkeit gebunden wird. Recht bedeutet dabei im Unterschied zu Gesetz die vorstaatliche, nicht gesatzte Sphäre, die heute mit Menschenrechten oder Naturrecht gekennzeichnet würde. Nach Stein hat der Staat seine Existenz auf diesem apriorischen Recht aufzubauen und wird dadurch legitimiert. Im anderen Fall wird der Staat ein Unrechtsstaat. Auch hier überzeugt die nüchterne Art, wie Stein, auf der Rechtsstaatlichkeit beharrend, allen Versuchungen einer Personalisierung oder Idolisierung von „Führertum“ als der Wurzel der Staatlichkeit widersteht; im Grund entwickelt sie bereits eine Institutionentheorie des Rechtsstaates.

Einstehen für die Gemeinschaft:

Pro-Existenz, Stellvertretung, Sühne

Daß Stein auf phänomenologischem Wege zur Statuierung des Du und des Wir (über Husserls solipsistisches Ego hinaus) kam, erlaubt ihr menschlich wie religiös weitreichende Folgerungen. Ihre etwa gleichzeitige Wendung zur religiösen Transzendenz entspringt nicht – wie Husserl dies 1921 verdächtigte – einem „inneren Elend in den Seelen“[51], sondern ist grundgelegt in ihrer gedanklichen Außenwendung überhaupt.

Was wird durch solche Beobachtungen denkbar? Edith Stein deckt auf, daß Gemeinschaft keine impersonale oder funktionale Sache ist. Was der Rationalität zunächst so einfach erschien, der Ausgang vom Ego, verliert unter der Beunruhigung des Anderen, der hereindrängt, seine Übersichtlichkeit und wird selbst vielfältig-lebendig. Der Erkennende wird in eine transzendierende Bewegung eingehen müssen – allerdings bedeutet sie ebenso Verlust wie Gewinn. Die Wahrheit der Anderheit verlangt mehr als einfaches Zur-Kenntnis-Nehmen in Form eines gegenständlichen Habens und Wissens. Sie verlangt den Vollzug der Anerkennung und der Wertschätzung. Ja, wenn in der Gemeinschaft etwas aufscheint, wovon das Individuum vorgängig getragen, mit Kräften begabt ist, so verlangt diese Wahrheit sogar im entscheidenden Fall eine Selbstübergabe. So bleibt nichts unverändert: Wenn die Theorie der Gemeinschaft als sachliches Erfassen begann, so wurde es doch dahin geführt, daß der Erkennende etwas tut, wird oder erleidet. Distanzierte Analyse wird Hingabe.

In diesem Zusammenhang steht Edith Steins latente und zum Teil offen ausgesprochene Theorie der Stellvertretung oder Proexistenz, die sich theologisch gesprochen zu einer Theorie der Sühne verdichtet.

Theologie und Lebenswelt der Sühne

 Als Edith Stein 1933 den Karmel unter verschiedenen möglichen Orden wählte, war sie von einer noch unklaren, aber merkwürdig sicheren Empfindung durchdrungen, ihr sei darin etwas aufgespart, was sie in einem anderen Orden nicht unmittelbar gefunden hätte. Je länger je mehr wird sie begreifen, daß das Aufgesparte in der Stellvertretung, schärfer noch: im Angebot der Sühne bestehe. Um diesen Gedanken war sie durchaus schon früher gekreist, lernte ihn aber unter dem Druck der politischen Ereignisse deutlicher auf sich zu beziehen. So verdichten sich die Äußerungen über die Jahre hinweg, von einer allgemeinen Theologie der Sühne bis zu einer persönlich auf sie selbst zugeschnittenen Stellvertretung. Diese wird in der Tat zu ihrem persönlichen „Weg in die Nacht“. Ihre anfänglich noch allgemein gefaßte Deutung der Sühne ruht auf einem großen paulinischen Gedanken auf: „Es gibt eine Berufung zum Leiden mit Christus und dadurch zum Mitwirken an seinem Erlösungswerk. Wenn wir mit dem Herrn verbunden sind, so sind wir Glieder am mystischen Leib Christi; Christus lebt in seinen Gliedern fort und leidet in ihnen fort; und das in Verei­nigung mit dem Herrn getragene Leiden ist Sein Leiden, eingestellt in das große Erlösungswerk und darin fruchtbar. Es ist ein Grundgedanke alles Ordenslebens, vor allem aber des Karmellebens, durch freiwilliges und freudiges Leiden für die Sünder einzutreten und an der Erlösung mitzuarbeiten.“[52]

Eine solche am eigenen Leib ausgetragene Möglichkeit bedeutet gemäß der Spiritualität des Karmel die alles durch­wirkende Herausforderung. Sie ist durchaus im erfüllenden Sinn möglich, wird nicht einfach als Überlast geschleppt: „Wer in den Karmel geht, ist für die Seinen nicht verloren, sondern erst eigentlich gewonnen; denn es ist ja unser Beruf, für alle vor Gott zu stehen.“[53] Auch deswegen liegt eine eigentümliche Freude im Austausch des Lebens, weil dies – wie in den Thesen zum Frausein mehrfach angemerkt – der Fraulichkeit entspricht und sie keineswegs nur durchkreuzt: „Die Werke der Nächstenliebe und die Aufopferung in stellvertretender Genugtuung dagegen kommen entschieden der weiblichen Natur entgegen.“[54]

Die Theologie der Sühne stützt sich also durchaus auf eine seelische Mitgift der Natur und ist daher nicht lebensverneinend, sie gehorcht vielmehr einem bestimmten inneren Zug. Dennoch widersetzt sie sich, tiefer betrachtet, einer anderen, der selbstbezogenen Kraft der Natur. Sühne ist ein excessivum: steigert nicht nur das eigene Leben, sondern übersteigt es. Daher ist es naiv, sich einfachhin auf die (eigene oder fremde) Psyche in diesem nicht ungefährlichen Vorgang zu verlassen. Beiläufig deutet Edith Stein auf die bedrohlichen Seiten des Opfergedankens hin. In alle Askese – und gerade in sie – kann sich unvermerkt die große Versuchung des religiösen Lebens einschleichen: „Wenn man das ganze Leben nur aus Opfern bestehen lassen will, ist die Gefahr des Pharisäertums nahe.“10 Die Psychologin, die in ihrer Studienzeit für den Scharfblick gegenüber ihren Freunden berühmt war, weiß wohl aus Anschauung um die religiöse Hysterie: „Denn der natürliche Mensch flieht vor dem Leiden. Und die Sucht nach Leiden um einer perversen Lust am Schmerz willen ist von dem Verlangen nach Sühneleiden durchaus verschieden.“[55]

Die Frucht stellvertretenden Leidens läßt sich deswegen keineswegs einplanen; eine solche Absicht würde die Fruchtbarkeit sogar an ihrem Ursprung verhindern. Leiden hat keinen Zweck, sonst stünde es dem Zugriff des Menschen offen. Zweck im Religiösen gerät hart an den Mißbrauch: das Heilige als Mittel zu nutzen, als Instrument der Belehrung, des Ansporns, zur Abhängigkeit anderer. Aber auch  gegenüber sich selbst: Askese als Mittel zur eigenen Erbauung, zur Vergewisserung der Kräfte.

So nochmals: Leiden hat keinen Zweck, aber es hat Sinn – von einer der Vernunft unzugänglichen Seite her. Das Stillhalten im „Mysterium der Stellvertretung“ steht nicht unter zweckhafter Kontrolle, noch nicht einmal der des Leidenden selbst. Es geht einzig um das mühsame Einfinden in die „übernatürlichen Zusammenhänge der Weltgeschehens; das ist aber nur möglich bei Menschen, in denen der Geist Christi lebt, die als Glieder vom Haupt ihr Leben, seine Kraft, seinen Sinn und seine Richtung empfangen.“[56] – „Nur aus der Vereinigung mit dem göttlichen Haupt bekommt menschliches Leiden sühnende Kraft.“[57] Allerdings ist es dann eine „außerordentliche Gnade“, wie Edith Stein an Peter Wust in bezug auf sein Kehlkopfleiden schreibt.[58]

Die Einsicht in die Wahrheit solcher Zusammenhänge wächst nur langsam, weil sie an sich der eigenen Natur widerstrebt, dem Wunsch nach Selbstbestimmung, nach freiem Wuchs aus eigener Kraft. Außerdem klingt das Ganze in der religiösen Sprache bekannt, allzu bekannt; auch Edith Steins Sprach­lichkeit macht hier keine Ausnahme. „Ich weiß wohl, wie farblos alles ist, was ich Ihnen geschrieben habe. […] dann fürchtet man sich, das Heiligste zu banalisieren.“[59]

Dieser Zwiespalt zwischen abgegriffener religiöser Sprache und lebendigem Anspruch kennt eine Überwindung: das Leben des Zeugen, der den alten Behauptungen Blut und Farbe verleiht. Und hier läßt Edith Stein mit strenger Eindringlichkeit anschaulich werden, was in Worten, auch ihren eigenen, eher spröde wirkt. Was sie zu verwirklichen strebt, ist das Unverdaute oder Ferngehaltene der christlichen Lehre, der Gedanke des Opfers: sich in eine Lücke einsetzen zu lassen, ohne diese Lücke selbst auszusuchen. Die Nähe zu Gott, die Edith Steins reifendes Leben sichtlich auszeichnet, ist zugleich eine Nähe zum Untergang. Und das Heimisch-Werden in diesem Gedanken, im Ausfüllen einer Lücke zugrundezugehen, wächst in ihren Karmel-Jahren zu der Gewißheit, sich Gott für die Einfügung in ein unbekanntes Mosaik anbieten zu sollen.

Von daher ist ihr inneres Leben, so sehr es Anzeichen einer großen Freude gibt, wie von dem Schleier eines nahenden und dunklen Geheimnisses verhüllt. Das treffende Wort für diese sich verdichtende Ahnung ist Kreuzeswissenschaft, jene neue Art von Wissen, worin die wirkliche Begegnung mit dem Göttlichen die Systematik des Gewußten zerreißt, in mehrfachem Sinn davon nichts übrig läßt. Diese Entwicklung geschieht um so überzeugender, als an ihrem Anfang Glück steht. Glück, weil Edith Stein in der ersten Zeit ihres Kölner Karmellebens sich unerwartet verwöhnt findet: „Ein Opferleben habe ich geführt, solange ich draußen war. Jetzt sind mir fast alle Lasten abgenommen, und ich habe in Fülle, was mir sonst fehlte.“[60] Dieser Satz ist enthüllend, weil Edith Stein, schon von ihrem sachlich disziplinierten Habitus her, vermutlich im Religiösen zu einer Art Übererfüllung neigte. Stattdessen erfährt sie eine Umwertung bisheriger Werte – eigentliches Erkennungszeichen jenes Souveräns, der das „Unverdiente“ gibt. Freilich erwartet sie von derselben Souveränität, „daß ich auch noch einmal mehr von meiner Kreuz-Berufung spüren werde als jetzt, wo ich noch einmal vom Herrn als ein kleines Kind behandelt werde.“[61]

Am Ende ihres Lebens wird sie diese Ahnung deutlicher in eine Theorie – vermutlich doch aufgrund eigenen mystischen Erlebens – einbinden. Auf den Spuren ihres Ordensvaters kennzeichnet sie eine Wegstrecke der religiösen Reifung bei den „Anfängern“ als freudiges Getragensein.[62] Dieser Anfang wird nachhaltig zerstört, nicht zuletzt um seiner Unvollkommenheit abzuhelfen. Hier setzt jene beschriebene Reini­gung ein, von dem Leidenden selbst nicht genau in allen Phasen eingeordnet werden kann. Zwar versucht die Kreuzeswissenschaft, ein solches System der verschiedenen „Wege“ zu entfalten; dennoch gehört es zum Charakter des Wandernden, daß er selbst sich für verirrt hält, die Richtung verloren hat und über seinen eigenen Standort keine Auskunft mehr geben kann. Dieser Vorgang kann bis in die Tiefe der „Vernichtung“ hinabreichen, die Edith Stein in der Gestalt des Gekreu­zigten annimmt. Die paulinische kenosis, die völlige Nichts­werdung, umfaßt zugleich die subjektive Empfindung größter „Verlassenheit“ wie objektiv die vollgültige Frucht, die der Leidende selbst nicht wahrnehmen kann.

Edith Stein erzog sich jahrelang zur Annahme des Kommenden, in welcher Gestalt immer. Das heißt, daß die Paradoxie ihr selbst sehr bewußt ist, unter der die Theologie der Stellvertretung steht: sich in eine Lücke zu werfen für etwas, ohne daß die Lücke damit sichtbar gefüllt wäre. Im Gegenteil: Die Erfahrung verweigert sogar einen Zusammenhang dieser einzelnen „fruchtlosen“ Opfer mit irgendeiner Rettung des Ganzen, die ja nicht eintritt und auch damals nicht eintrat. Und trotzdem: Es ist Edith Steins stets wachsende, ja sie nötigende Empfindung, für eine Hingabe vorgesehen zu sein, ohne das Ergebnis ihrer Hingabe sich abzeichnen zu sehen. Die Fruchtlosigkeit, unter der ihr Lebensende steht, das entsetzliche Schweigen, in das diese intellektuelle Frau in der letzten Woche ihres Lebens verschwand, die Tatsache auch, daß es nicht einmal ein Grab für sie gibt, können als Zeichen der Zerstörung gelesen werden. Unsichtbar, der Erfahrung nicht zugänglich ist die andere Seite dieser Zerstörung: Was dadurch „im mystischen Leib“, in ihrem Volk und der Kirche in Bewegung gesetzt, was verhindert, was neu aufgebaut wurde. „In Verborgenheit und Schweigen vollzieht sich das Werk der Erlösung. In der stillen Zwiesprache des Herzens mit Gott werden die lebendigen Bausteine bereitet, aus denen das Reich Gottes erwächst, die erlesenen Werkzeuge geschmiedet, die den Bau fördern.“[63]

Deutlich ist, wie sie Schritt für Schritt auf das „Nichtswerden“ zugeht, das sie in seiner realen Gestalt lange nicht kennt. Gerade die offene Formulierung in ihrem geistigen Testament vom 9. Juni 1939 ist bezeichnend: „Schon jetzt nehme ich den Tod, den Gott mir zugedacht hat, in vollkommener Unterwerfung unter Seinen heiligsten Willen mit Freuden entgegen.“[64] Im Folgenden wird sie den Sühnegedanken namentlich für Deutschland und für ihr jüdisches Volk aussprechen, ebenso wie ihr letztes Wort auf der Straße beim Abtransport lautete: „Komm, wir gehen für unser Volk“ – dies zu ihrer Schwester Rosa gesagt, in deren Leben und Sterbenmüssen sie denselben Zugriff erkennen wollte. Wenn Edith Stein von einer solchen Sicherheit mitten in der Absurdität ihres nahenden Endes getragen ist, so weist dies den Resonanzboden bestimmter Erfahrung auf. Wenn man ihre Erfahrung nicht teilt, sie sogar anzweifelt, sollte man nicht vergessen, daß sie bereit war, diese Resonanz am jähen Ende ihres 51jährigen Lebens noch einmal im „Schmelzofen des göttlichen Bildners“[65] zu prüfen.

Man sollte sich hüten, eine solche umfassende Versöhnung in einzelne Posten aufzulösen und nach den unmittelbar greifbaren Ergebnissen zu fragen. Hier gibt es eine Evidenz, die der Beterin selbst klar war und die in ihrer Klarheit nicht mitgeteilt werden kann. Daß am leergeräumten Boden ihres Daseins ein Antlitz erschien, das der vollständigen Auslieferung einen Sinn gab, ist an ihrer Gestalt, die auch in der letzten Woche Ruhe und Ausstrahlung nicht verlor, ablesbar. Edith Stein hat ein doppeltes Zeugnis vorgelegt: sie hat Gott als den Lebenssteigernden erfahren, sie hat ihn auch als den Lebensfordernden erfahren. Beidem stimmt sie zu, mit nüchter­ner Bereitwilligkeit, die kein Besserwissen braucht, ebensowenig den sinnlosen Streit, ob sie sich für „ihr Volk“ so hätte opfern müssen.

Auschwitz und Deutschland

 Steins Lebensende entzieht sich fast ganz ins innere Dunkel. An Silvester 1938 wechselt sie nach der „Reichskristallnacht“ vom 9. November in das niederländische Filialkloster Echt. 1942 versucht sie, für ihre als Laienhelferin tätige Schwester Rosa und sich selbst im Schweizer Karmel Le Pâquier Aufnahme zu finden, was von den dortigen Behörden zu lange hinausgezögert wird. Am 26. Juli 1942 lassen die niederländischen Bischöfe ein Hirten­wort gegen die Judenverfolgung verlesen. Eine Woche später werden im Racheakt der Nazis die katholischen Juden, betont die Ordensangehörigen, verhaftet und in Sammellager verschleppt. Auch die Schwestern Stein werden am Sonntag, 2. August 1942, abgeholt; vor dem Einsteigen fällt das Wort: „Komm, wir gehen für unser Volk.“ Am 9. August 1942 trifft eine identifizierbare Gruppe von Nonnen im Habit an der Rampe in Auschwitz ein und wird vermutlich sofort vergast.

Edith Steins zerstörtes Leben geht letztlich in eine kaum auszu­leuchtende Stellvertretung über. Wie in ihrem Testament aufgezählt, sucht sie Kirche, Karmel, Judentum, Deutschland, ihre Familie und alle, „die Gott mir gegeben hat“, mit Ihm zu versöhnen. Sühne ist im Munde Edith Steins keine überlebte theologische Vokabel. Sühne ist das unerklärlich Wirksame im Gewebe des gemeinsamen Daseins. Daß am leergeräumten Boden ihres Daseins ein Antlitz erschien, das der vollständigen Auslieferung einen Sinn gab, ist an ihrer Gestalt, die auch in der letzten Woche Ruhe und Ausstrahlung nicht verlor, ablesbar. „Edith Stein, die vom Kreuz gesegnete Teresia, ist eine große Hoffnung, ja eine Verheißung für ihr Volk – und für unser Volk -, gesetzt, daß diese unvergleichliche Gestalt wirklich in unser Leben tritt, daß uns erleuchtet, was sie erkannt, und die Größe und das Schreckliche ihres Opfers beide Völker bewegt.“ (Reinhold Schneider)

Am 11. Oktober 1998 wurde Edith Stein in Rom heiliggesprochen und ein Jahr später neben Birgida von Schweden und Caterina von Siena zur Mitpatronin Europas ernannt. Welche Frau spiegelt tiefer das Helldunkel des 20. europäischen Jahrhunderts in seinen Abstürzen und seiner „Gottesfinsternis“ (Buber), aber auch in seinem Neuanfang auf den Schultern der Martyrer?

Vergessen wir nicht, daß Edith Stein in Auschwitz auch „für Deutschland“ gestorben ist – was kaum in unserem Bewußtsein ist.

Gertrud von le Fort, die mit Stein befreundete Dichterin, hat nach dem Krieg die Einfühlung im Sinne der Sühne im Blick auf das deutsche Volk thematisiert, in einer besonders schönen Weise, die möglicherweise durch Edith Stein inspiriert war: „ […] aber wenn es wirklich einen Gott gibt, so glaube ich, hat er der, an die du denkst, meine Schuld vergeben. […] Die Welt hat unsrem Volk nicht vergeben, und das ist auch ganz in der Ordnung, wiewohl nicht besonders wichtig – wichtig ist nur, daß unser Volk sich selbst nicht vergeben hat und auch nicht vergeben darf, daß es aber eine stellvertretende Gnade gibt […]“[66]

[1] Stein, Aus dem Leben einer jüdischen Familie, ESGA (Edith Stein Gesamtausgabe) 1, Freiburg 2000, Kap. 1.

[2] Stein, Geistliche Texte II, ESGA 20, 84.

[3]  Stein, Aus dem Leben einer jüdischen Familie, ESGA 1, 229f.

[4]  Stein, Beiträge zur Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften, Halle 1922, Tübingen 21970, 276.

[5] ESGA 4: Br. 96 an R. Ingarden vom 13. 12. 1925, SBB III, 168.

[6] ESGA 13: Die Frau. Fragestellungen und Reflexionen, Freiburg u. a. ²2002.

[7] Br. 161 an R. Ingarden vom Sommer 1937, SBB III, 237f.

[8] Vgl. Davies, Norman / Moorhouse, Roger, Die Blume Europas: Breslau – Wroclaw – Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt, München 2002, 411f.

[9] In dieser Partei Friedrich Naumanns waren Martin Rade, Ernst Troeltsch, Walter Rathenau und viele Reformprotestanten und Reformjuden.

[10] Vgl. Tapken, Andreas, Der notwendige Andere. Eine interdisziplinäre Studie im Dialog mit Heinz Kohut und Edith Stein, Mainz 2003 (kurz: Tapken, Studie).

[11] Weigel, George, „Europa braucht ein Großes Erwachen“, in: Die Tagespost Nr. 51/52 vom 29. 4. 2004, 11-13; hier: 13; Hirschfeld, Gerhard / Krumeich, Gerd / Renz, Irina (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2. Aufl., Paderborn 2004; Berghahn, Volker R., Der Erste Weltkrieg, München 2003; Salewski, Michael, Der Erste Weltkrieg, Paderborn 2003; Mommsen, Wolfgang J., Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt/M. 2004.

[12] Ohne Nachweis.

[13] Leipzig 1915.

[14] Scheler, Max, „Vom kulturellen Wiederaufbau Europas. Ein Vortrag“, in: ders., Vom Ewigen im Menschen (1921), GW 5, hg. v. Scheler, Maria, Bern / München 5. A. 1968, 405.

[15] Haecker, Theodor, „Nachwort“, in: Kierkegaard, Sören, Der Begriff des Auserwählten, Hellerau 1917, 401.

[16] Przywara, Erich, Ringen der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1922-1927, Augsburg 1929, 2 Bde.

[17] Benn, Gottfried, „Einleitung“, in: Die Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts, in: Sämtliche Werke, hg. v. Hof, H., Stuttgart 2001, VI, 215f.

[18] Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bde., München 1918 und 1922.

[19] Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der den Einfluß Spenglers auf Thomas Manns Zauberberg nachgewiesen hat, erinnert sich: „Ich habe die beiden dicken weißen, grobgedruckten Bände als Kind in jedem bürgerlichen Wohnzimmer entdeckt, wohin ich in Begleitung der Eltern gehen durfte. Man sprach davon allenthalben und unablässig.“ Zitiert nach Knoll, Alfons, Glaube und Kultur bei Romano Guardini, Paderborn: Schöningh, 1993, 44, Anm. 90.

[20] Getzeny, Heinrich, “Biozentrische Metaphysik – die Weltanschauung unserer Zeit”, in: Die Schildgenossen 6 (1926), 436 – 449.

[21] Die erste Abhandlung in: Stein, Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften, 1922; die zweite 1925, jeweils in Husserls Jahrbuch, Halle.

[22] Romano Guardini, zitiert von Josef Aussem [ein „Bericht über eine Quickborntagung zu Volk und Politik“ 1923], in: Die Schildgenossen 3, 5/6 (1923), 192.

[23] In: Schröder, Rudolf Alexander / Borchardt Rudolf, Gesammelte Briefe, hg. v. Gerhard Schuster, München: Hanser, 2002.

[24] Scheler, Max, „Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt. Ein Vortrag“, in: ders., Vom Ewigen im Menschen (1921), GW 5, hg. v. Scheler, Maria, Bern / München 5. A. 1968, 377f.

[25] Hesse, Hermann, Die Morgenlandfahrt. Eine Erzählung, in: ders., Gesammelte Schriften VI, Frankfurt am Main 19

[26] Vgl. hierzu Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara, „Deutsche Geistesgeschichte im Jahrzehnt 1918-1928, konzentriert im Blick auf Edith Stein“, in: Beckmann, Beate / Gerl-Falkovitz, H.-B. (Hg.), Edith Stein. Texte – Bezüge – Dokumente, Würzburg 2003, 149-170.

[27] Die überragende Gestalt bei dieser Neuentdeckung war Romano Guardini (1885-1968); vgl. seine Grundsatzschrift Vom Sinn der Kirche. Fünf Vorträge, Mainz 1922, mit dem berühmten ersten Satz: „Ein Vorgang von ungeheurer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen.“

[28] Frank, Semjon, „Staat und Kirche in der östlichen Orthodoxie“, in: Eine heilige Kirche 16 (1934), 244-250; hier 250: „[…] müßte der römisch-katholischen Kirche – der einzigen, die innerhalb ihrer Grenzen eine in der Tradition unverbrüchlich fest verankerte übernationale autoritäre Instanz besitzt, – die Initiative und Führung in dieser schicksalsnotwendigen, gottgebotenen Bewegung <der Ökumene> gehören“.

[29] Am wichtigsten: Guardini, Romano, Gottes Werkleute. Briefe über Selbstbildung, „3. Von der Gemeinschaft; 10. Staat in uns“, Burg Rothenfels am Main 1921-1924; ders., „Möglichkeit und Grenzen der Gemeinschaft“ (1930), in: Unterscheidung des Christlichen, Mainz 1935.

[30] Zu Hildebrands Metaphysik der Gemeinschaft schrieb Edith Stein eine Rezension (1932). Vgl. Beckmann-Zöller, Beate, “Die Herausforderung des Gemeinschafts-Gedankens für katholische Denker im zeitgenössischen Umfeld Edith Steins”, in: Beckmann-Zöller, Beate / Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara (Hg.), Die unbekannte Edith Stein: Phänomenologie und Sozialphilosophie (Reihe: Wissenschaft und Religion), Frankfurt 2006, 115 – 134.

[31] Vgl. Käsler, Dirk, Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus: Eine wissenssoziologische Untersuchung, Opladen 1984; Loos, Stephan / Zaborowski, Holger (Hg.), Leben, Tod und Entscheidung. Studien zur Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Berlin 2003; Mohler, Armin, Die konservative Revolution in Deutschland, Darmstadt 1972.

[32] Leopold von Wiese, „Zum Beginn des zehnten Jahrgangs“, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 10 (1931/32), 2.

[33] Zitiert nach Lorenz Jäger, „Die Reue des Ephialtes. Kreuzzug und Polizeiaktion: Ernst Bloch in den Weltkriegen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.6.2004.

[34] Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt 1959, III, 1614f.

[35] Br. 3 vom 28. 1. 1917, SBB III.

[36] Br. 7 vom 9. 2. 1917, SBB III.

[37] Br. 20 vom 6. 7. 1917, SBB III.

[38] Br. 35 vom 2. 6. 1918, SBB III.

[39] Br. 60 vom  30. 11. 1918; Br. 63 vom 10. 12. 1918, SBB III.

[40] Br. 64 vom 27. 12. 1918, SBB III.

[41] Stein,  Bildung und Entfaltung der Individualität, ESGA 16, 170.

[42] Stein, Der Aufbau der menschlichen Person, ESGA 14, 144f., VIII. Das soziale Sein der Person, III.1: Ausschaltung des Rasseproblems.

[43] Veröffentlicht in: Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften (Halle 1922), Tübingen 21970; demnächst in ESGA 6 (2010).

[44] Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887.

[45] Stein,  Individuum und Gemeinschaft, Tübingen 1970, 130.

[46] Ebd.,  249.

[47] Vgl. Claudia Mariéle Wulf, Freiheit und Verantwortung in  Gemeinschaft  – eine brisante Auseinandersetzung zwischen Edith Stein und Max Scheler, in: Beckmann/Gerl-Falkovitz (Hg.), a. a. O., 91 – 114.

[48] Ebd., 268.

[49] Tapken, Studie, 170.

[50] Geschrieben um 1919/20; veröffentlicht Halle 1925; Tübingen 21970; jetzt ESGA 7.

[51] Edmund Husserl, Briefe an Roman Ingarden. Mit Erläuterungen und Erinnerungen an Husserl, hg. v. Roman Ingarden, Den Haag 1968, Brief vom 25. 11. 1921.

[52] Br. 234 an Anneliese Lichtenberger vom 26. 12. 1932 (SBB I, 254). Vgl. Stein, Aufgabe der Frau als Führerin der Jugend zur Kirche (1932), in: ESGA 13, 220: „Anteil[s] am Erlösungswerk durch stellvertretendes Leiden“.

[53] Br. 328 an Fritz Kaufmann vom 18.4.1934 (SBB II², 63; 1. Aufl. Br. 318, 51f).

[54] Stein, Das Ethos der Frauenberufe, ebd., 25.

[55] Stein, Verborgenes Leben. Hagiographische Essays, Meditationen, geistliche Texte (=VL), Freiburg u.a. 1987, ESW XI, 122.

[56] Ebd., 123.

[57] Ebd.

[58] Br. 638 an Peter Wust vom 28. 8. 1939 (SBB II, 410).

[59] Br. 303 an Petra Brüning vom 26. 1. 1934 (SBB II, 36).

[60] Br. 365 an Gertrud von le Fort vom 31. 1. 1935 (SBB II, 87f.).

[61] Ebd.

[62] Stein, Kreuzeswissenschaft. Studie zu Johannes vom Kreuz,  ESGA 18, 41.

[63] Stein, „Das Gebet der Kirche“, in: Verborgenes Leben. Hagiographische Essays, Meditationen, geistliche Texte, Freiburg u.a. 1987, ESW XI, 21.

[64] Stein, Testament, in: ESGA 1: Aus dem Leben einer jüdischen Familie, 375.

[65] Stein, Grundlagen der Frauenbildung (1930), in: ESGA 13, 42.

[66] Gertrud von le Fort, Das fremde Kind. Erzählung, Frankfurt (Insel) 1961, 110.

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